Man hört kein Klagen, aber man spürt es. In den Blicken, in der Haltung, im Schweigen.
Und genau hier zeigt sich, wie sehr Tafeln heute das soziale Netz still ersetzen – leise, unauffällig, aber unübersehbar. Was als ergänzendes Angebot gedacht war, ist zur tragenden Säule für Millionen geworden. Ohne offizielles Mandat, ohne rechtliche Absicherung und oft am Rande der Belastbarkeit stemmen sie Aufgaben, die eigentlich dem Staat zufallen sollten. Sie schließen Lücken, die immer größer werden. Nicht mit lauten Forderungen, sondern mit Tüten voller Brot, Obst und Respekt.
Doch wie lange kann diese Stille noch tragen, bevor sie zur Überforderung wird – nicht nur für die Engagierten, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes?
Tafel als strukturelle Stütze
Als 1993 die erste Tafel in Berlin gegründet wurde, war das Ziel klar: Lebensmittel retten und Menschen in akuten Notlagen helfen. Eine Übergangslösung, gedacht für eine Zeit, in der Solidarität gefragt war, aber in der die Sozialhilfe noch wirksamer war als heute. Inzwischen hat sich das Bild grundlegend gewandelt. Die Tafeln sind längst keine Ausnahmeerscheinung mehr – sie sind Teil des Alltags geworden. Ein inoffizielles Element der Armutsbewältigung, das ohne offizielles Mandat Aufgaben übernimmt, die eigentlich dem Sozialstaat zufallen müssten.
Über 960 Tafeln mit rund 2.000 Ausgabestellen gibt es heute in Deutschland. Sie versorgen wöchentlich mehr als zwei Millionen Menschen – Tendenz steigend. Rentner mit jahrzehntelanger Berufserfahrung, alleinerziehende Mütter, prekär Beschäftigte, Studierende, Geflüchtete. Die Gründe, warum jemand zur Tafel geht, sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Immer häufiger sind darunter auch Erwerbstätige – Menschen, die arm trotz Arbeit sind. Doch allen gemein ist eines: Sie leben in einem Land, das offiziell zu den wohlhabendsten der Welt gehört – und trotzdem an ihnen vorbeiblickt.
Entwicklung der Tafeln in Deutschland – Vom Übergang zur Stütze
Aspekt | 1993 – Erste Tafel in Berlin | Heute – 30 Jahre später |
---|---|---|
Zielsetzung | Lebensmittel retten, akute Nothilfe | Dauerhafte Hilfe für breite Bevölkerungsschichten |
Anzahl der Tafeln | 1 | über 960 |
Ausgabestellen | einzelne Anlaufstellen | mehr als 2.000 deutschlandweit |
Nutzergruppen | Wohnungslose, Menschen in Not | Rentner, Alleinerziehende, Studierende, Erwerbstätige |
Staatliche Rolle | Ergänzung zur Sozialhilfe | Stillschweigender Ersatz für staatliche Lücken |
Versorgte Personen pro Woche | einige Hundert | über 2 Millionen |
Wo das Sozialsystem versagt
Ein Sozialstaat sollte Menschen in Not auffangen. Er sollte Würde garantieren, Teilhabe ermöglichen, Perspektiven schaffen. Doch genau das funktioniert immer weniger. Das Bürgergeld deckt oft nur das Allernötigste. Die steigenden Kosten für Miete, Energie und Lebensmittel verschärfen die Situation zusätzlich. Was auf dem Papier als „Existenzminimum“ gilt, fühlt sich für viele längst wie ein Leben unter der Oberfläche an.
Doch warum greifen staatliche Mechanismen nicht mehr? Liegt es an der Bürokratie? An fehlender politischer Entschlossenheit? Oder schlicht am gesellschaftlichen Willen?
Tatsächlich ist es ein Gemisch aus vielem. Zu geringe Regelsätze, steigende Lebenshaltungskosten, eine Wohnungspolitik, die an den Bedürfnissen der Schwächsten vorbeigeht, sowie ein Arbeitsmarkt, der zwar Beschäftigung schafft, aber keine Sicherheit garantiert. Minijobs, befristete Verträge, Leiharbeit – all das schafft Einkommen, aber keine Existenzgrundlage.
Wenn Ehrenamt zur Ersatzstruktur wird
Die Helfer der Tafeln sind keine Beamten. Sie tragen keine Uniformen, haben keine festen Arbeitszeiten, kein festes Gehalt. Sie machen es aus Überzeugung. Aus Mitgefühl. Aus einem tief verankerten Sinn für Gerechtigkeit. Doch genau darin liegt das Paradoxe. Die freiwillige Hilfe dieser Menschen ist zu einem zentralen Baustein eines Systems geworden, das sich auf ihre Stillarbeit verlässt.
Einige Ehrenamtliche berichten, dass sie nicht selten doppelte Schichten machen, um den Andrang zu bewältigen. Dass sie mit Tränen konfrontiert werden, mit Scham, mit Dankbarkeit, die manchmal beschämt. Und sie berichten von wachsender Überforderung – emotional, körperlich, strukturell. Denn je mehr Menschen kommen, desto größer wird auch der Druck auf die, die helfen wollen.
Parallelwelt mitten unter uns
Es ist eine Welt, die vielen verborgen bleibt – entweder, weil sie nicht betroffen sind, oder weil sie nicht hinschauen wollen. Denn Armut in Deutschland ist selten spektakulär. Sie schreit nicht, sie schleicht. Sie verbirgt sich hinter heruntergedrehter Heizung, abbestelltem Schulessen, ausgelassenen Arztterminen. Sie zeigt sich in Second-Hand-Schuhen für die Kinder, im Verzicht auf neue Brillen oder im Wochenende ohne warmes Essen.
Tafeln fangen diese Realitäten auf. Doch sie sind keine dauerhafte Lösung. Sie lindern Symptome, nicht die Ursachen.
Was fehlt, sind politische Antworten
Der Staat zieht sich schleichend zurück, wo er eigentlich Verantwortung übernehmen müsste. Und während die Tafeln mehr leisten als jemals zuvor, bleibt eine zentrale Frage unbeantwortet: Wo hört Nächstenliebe auf – und wo beginnt staatliche Pflicht?
Es braucht mehr als warme Worte und wohlwollende Danksagungen an die Ehrenamtlichen. Es braucht:
- eine bedarfsgerechte Erhöhung der Sozialleistungen,
- einen Mietmarkt, der Menschen mit geringem Einkommen nicht aus dem Zentrum verdrängt,
- Investitionen in Bildung, Beratung und Prävention,
- eine armutsfeste Grundsicherung, die nicht entwürdigend ist.
Armut kann jeden treffen
Armut ist keine Randerscheinung. Sie ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und sie kann jeden treffen: Krankheit, Scheidung, Jobverlust – ein Schicksalsschlag reicht oft aus. Der Weg zur Tafel ist dann nicht mehr weit. Viele, die ihn gehen, hätten es sich vorher nie vorstellen können.
Ein Beispiel: Herr K., gelernter Schlosser, 43 Jahre alt, drei Kinder. Nach einem Arbeitsunfall konnte er seinen Beruf nicht mehr ausüben. Umschulung? Fehlanzeige. Bürgergeld reicht nicht, die Ersparnisse sind aufgebraucht. Die Tafel wurde für ihn zur einzigen Möglichkeit, seine Familie regelmäßig mit frischen Lebensmitteln zu versorgen. „Es ist nicht schön“, sagt er, „aber es ist besser, als nichts zu essen.“
Zeit für einen Paradigmenwechsel
Tafeln sind eine wertvolle Institution. Ein Ausdruck gelebter Solidarität. Doch sie dürfen nicht zum Dauerersatz für politische Verantwortung werden. Sie sind das menschliche Pflaster auf einer strukturellen Wunde – und kein Ersatz für ein System, das Gerechtigkeit garantieren soll.
Gerade in einer Zeit, in der Unsicherheiten zunehmen und traditionelle Sicherheitsnetze brüchiger werden, braucht es neue Antworten. Eine davon könnte das bedingungslose Grundeinkommen sein. Es verspricht nicht nur finanzielle Absicherung, sondern auch Würde – unabhängig von Lebensläufen oder Erwerbsbiografien. Ein Grundeinkommen würde Menschen wie Herrn K. davor bewahren, in existenzielle Not zu geraten, nur weil das Schicksal einmal hart zuschlägt.
Der Sozialstaat muss sich neu besinnen. Nicht auf das Prinzip der Freiwilligkeit, sondern auf das Versprechen, für alle da zu sein – besonders für die, die keine Stimme haben. Denn sonst wird aus Hilfe eine Gewohnheit, und aus Not eine Normalität.