Nachrichten aus Mai 2025

Elterngeld in der Kritik

Hier tritt das Elterngeld auf den Plan – als politisches Versprechen, dass Familie und Beruf vereinbar sind. Es soll Müttern wie Vätern ermöglichen, sich ohne existenzielle Sorgen um ihr Kind zu kümmern. Vor allem aber soll es die Gleichstellung fördern – im Erwerbsleben wie in der Fürsorgearbeit. Doch hält es dieses Versprechen auch ein?

Rollenbilder, die sich hartnäckig halten

Die Statistik erzählt eine andere Geschichte. Trotz moderner Väterbilder und lauter Gleichstellungspolitik bleibt der Großteil der Betreuungsarbeit an den Müttern hängen. Laut einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung aus dem Jahr 2023 nehmen über 70 % der Väter nur die gesetzlich vorgesehenen zwei Partnermonate. Wirklich gleich verteilt ist das nicht – vielmehr wirkt es, als würde das klassische Familienmodell in neuem Gewand fortgeschrieben. Mütter hingegen bleiben im Schnitt fast ein Jahr zu Hause – oft auch länger. Für viele von ihnen ist der berufliche Wiedereinstieg danach eine Herausforderung: reduzierte Stunden, stagnierende Karrieren, weniger Anerkennung. Nicht selten wird aus der „kurzen Pause“ ein dauerhafter Karriereknick. Und das, obwohl sie oft besser ausgebildet sind als ihre männlichen Kollegen. Diese ungleiche Verteilung ist kein Zufall, sondern spiegelt tief verankerte gesellschaftliche Vorstellungen wider. Der Mann als Hauptverdiener, die Frau als emotionale Ankerfigur – diese Bilder sind so alt wie sie wirkmächtig sind. Das Elterngeld, so gut es gemeint ist, schreibt sie teilweise fort. Denn es überlässt es den Paaren selbst, wie sie sich organisieren – und die entscheiden sich häufig auf Basis von Einkommensunterschieden und äußeren Erwartungen. Wichtige Sozialleistungen für Eltern wie das Elterngeld oder der Partnerschaftsbonus könnten eigentlich helfen, Gleichstellung zu fördern – doch solange sie in einem Umfeld wirksamer Rollenbilder greifen, bleiben sie oft nur symbolisch. Gleichstellung wird so zur individuellen Option statt zur strukturellen Wirklichkeit.

Problem der Verteilungswirkung

Auf den ersten Blick wirkt die Regelung plausibel. Wer mehr verdient, bekommt mehr Elterngeld. Doch in der Praxis führt genau das zu einer paradoxen Situation. Der Anspruch auf 65 % des vorherigen Nettoeinkommens bedeutet für gutverdienende Väter oft eine fünfstellige Summe über mehrere Monate. Und trotzdem verzichten viele auf eine längere Elternzeit – aus Sorge vor dem Karriereknick oder weil sie im Unternehmen unentbehrlich erscheinen möchten. Bei Müttern sieht es anders aus: Besonders in niedrigeren Einkommensgruppen fällt das Elterngeld bescheiden aus – der Mindestbetrag liegt bei gerade einmal 300 Euro pro Monat, was sich bei steigenden Lebenshaltungskosten kaum als tragfähiges Einkommen bezeichnen lässt. Die Folge: Viele Frauen fühlen sich gezwungen, deutlich länger als zwölf Monate zu Hause zu bleiben, weil sich der berufliche Wiedereinstieg wirtschaftlich schlicht nicht lohnt – oder weil sie keine passende Kinderbetreuung finden. Diese Dynamik trifft insbesondere alleinerziehende Mütter hart, die nicht nur auf das Elterngeld angewiesen sind, sondern gleichzeitig unter hohem gesellschaftlichem Druck stehen. Das Elterngeld wird damit – obwohl ursprünglich als gerechtes Modell gedacht – zu einem Instrument, das soziale Ungleichheit zementiert. Statt Teilhabe zu ermöglichen, verstärkt es in bestimmten Fällen die Abhängigkeit vom Partner oder dem Staat. Zwar existieren mit dem Kindergeld und dem Kinderzuschlag zusätzliche familienpolitische Leistungen, die soziale Härten abfedern sollen. Doch gerade beim Kindergeld wird die ungleiche Verteilungswirkung deutlich. Es wird unabhängig vom Einkommen gezahlt, was zunächst fair erscheint. In der Realität aber profitieren einkommensstarke Haushalte oft stärker, da das Kindergeld bei ihnen nicht mit anderen Leistungen verrechnet wird – im Gegensatz zu Familien mit geringem Einkommen, bei denen es häufig vollständig auf Transferleistungen wie Bürgergeld angerechnet wird. Somit kann auch das Kindergeld seine ausgleichende Wirkung nicht vollständig entfalten und trägt nur bedingt zur echten Chancengleichheit bei.

Reformbedarf – was sich ändern muss

Will man Gleichstellung ernsthaft fördern, reicht es nicht, an Appellen zu Eltern zu glauben. Es braucht einen mutigen strukturellen Wandel – und dieser beginnt bei der Weiterentwicklung des Elterngeldes. Denn ein Modell, das vor allem symbolisch für moderne Familien steht, muss auch faktisch Gleichstellung ermöglichen. Drei konkrete Reformvorschläge, die das Elterngeld gerechter machen könnten:
  1. Deutlich mehr Partnermonate: Statt zwei sollten mindestens sechs Monate exklusiv für jeden Elternteil reserviert sein – mit Verlust bei Nichtinanspruchnahme. So ließe sich das Modell der „geteilten Verantwortung“ glaubhaft stärken.
  2. Partnerschaftsbonus mit spürbarer Wirkung: Derzeitige Anreize wie der Partnerschaftsbonus werden selten genutzt – sie sind zu kompliziert und finanziell wenig reizvoll. Ein echter Bonus – etwa eine Erhöhung des Elterngeldsatzes auf 80 %, wenn beide Eltern mindestens sechs Monate Elternzeit nehmen – könnte echte Impulse setzen.
  3. Stärkung des Mindestelterngeldes: Eine Erhöhung auf mindestens 500 Euro monatlich, gekoppelt an eine automatische Anpassung an die Inflation, würde vor allem einkommensschwächeren Familien mehr Sicherheit geben und verhindern, dass Kinderarmut gleich nach der Geburt beginnt.
Diese Maßnahmen hätten nicht nur symbolische Kraft – sie könnten nachhaltig die gesellschaftliche Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit verändern. Denn wenn Gleichstellung nicht finanziell abgesichert ist, bleibt sie ein Lippenbekenntnis.

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Doch Gesetze allein reichen nicht. Denn in der Realität treffen gut gemeinte Reformen oft auf hartnäckige Strukturen in der Arbeitswelt. Viele Väter würden gerne mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen – aber trauen sich schlicht nicht. Die Angst, als „nicht voll belastbar“ zu gelten oder den Anschluss an Beförderungen zu verlieren, ist groß. Der Familienmonitor 2023 des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zeigt deutlich: 41 % der Väter würden gerne länger Elternzeit nehmen, verzichten jedoch aus beruflichen Gründen darauf. Während manche Unternehmen gezielt mit familienfreundlichen Modellen werben, sieht der Alltag vieler Beschäftigter anders aus. Flexible Arbeitszeitmodelle, echte Rückkehrrechte auf gleichwertige Stellen, eine Unternehmenskultur, in der Elternzeit kein Makel ist – all das existiert meist nur auf dem Papier oder in den Hochglanzbroschüren der Personalabteilung. Gleichzeitig erleben viele Mütter, dass ihnen nach der Elternzeit „vorsorglich“ weniger Verantwortung übertragen wird. Die vermeintliche Fürsorge entpuppt sich als strukturelle Diskriminierung. Dies trägt auch dazu bei, dass viele Menschen trotz harter Arbeit am Ende arm trotz Arbeit bleiben – denn fehlende Anerkennung und begrenzte Aufstiegschancen wirken sich langfristig auf Einkommen und soziale Sicherheit aus. Was es braucht, ist ein Umdenken – weg vom Ideal des permanent verfügbaren Arbeitnehmers hin zu einer Kultur, die Familienzeit nicht als Lücke, sondern als Ressource begreift.

Gesellschaftlicher Wandel beginnt in der Familie

Es wäre zu einfach, die Verantwortung nur den Familien selbst zuzuschieben. Natürlich sind individuelle Entscheidungen Teil der Gleichstellungsfrage. Doch sie entstehen nie im luftleeren Raum. Sie sind eingebettet in ökonomische Zwänge, soziale Normen, kulturelle Leitbilder und politische Rahmenbedingungen. Wenn wir wirklich eine Gesellschaft wollen, in der Elternschaft nicht zur Einbahnstraße für Frauen wird, dann müssen wir umdenken – konsequent, ehrlich und mutig. Dazu gehört auch, das Elterngeld nicht länger als sozialpolitisches Feigenblatt zu behandeln, sondern als aktives Werkzeug für gesellschaftlichen Fortschritt. Was wäre, wenn wir Elternzeit als das sehen würden, was sie ist: eine Investition in die Zukunft – nicht nur in die Kinder, sondern auch in die Gleichstellung? Was wäre, wenn Väter selbstverständlich monatelang aussetzen könnten – ohne Stirnrunzeln, ohne Karriereeinbußen? Was wäre, wenn wir Familien endlich nicht mehr als Privatangelegenheit, sondern als gesamtgesellschaftliche Verantwortung begreifen?

Elterngeld braucht ein Update

Das Elterngeld hat viel bewegt – aber auch viel offengelassen. Es ist ein Werkzeug, das bisher oft zu zaghaft genutzt wurde. In Zeiten, in denen Gleichstellung nicht nur ein politisches Ziel, sondern ein Maßstab für Fortschritt ist, braucht es mehr als symbolische Politik. Es braucht Strukturen, die echte Wahlfreiheit ermöglichen – für Mütter, für Väter, für alle, die Familie leben wollen. Dazu könnten auch neue Ansätze gehören, etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen, das Care-Arbeit finanziell absichert und Spielräume jenseits klassischer Erwerbsmodelle eröffnet. Und vielleicht auch eine neue Vision: eine, in der Care-Arbeit nicht als Opfer, sondern als Stärke gesehen wird. In der beide Elternteile selbstverständlich Verantwortung tragen – nicht nur emotional, sondern auch ökonomisch. Es ist Zeit, das Versprechen des Elterngelds neu zu denken – als Katalysator für Veränderung, nicht als bequeme Beruhigungspille.

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Von der Straße ins System

Was für die Mehrheit selbstverständlich ist – eine Meldeadresse, ein Bankkonto, ein gültiger Ausweis – stellt für wohnungslose Menschen oft ein kaum überwindbares Hindernis dar. Wer keine Adresse hat, gilt im Verwaltungssystem häufig als „nicht zustellbar“ und kann wichtige Leistungen wie Bürgergeld, Krankenversicherung oder Wohngeld kaum oder gar nicht beantragen. Termine beim Jobcenter oder beim Amt scheitern am fehlenden Internetzugang oder schlicht daran, dass Prioritäten im Überlebensalltag anders gesetzt werden müssen. Zwischen Anspruch und Realität klafft eine Lücke, die nicht selten zur Falle wird – mit gravierenden Folgen für die Betroffenen. Warum gelingt es vielen nicht, ins Hilfesystem zu finden? Welche Unterstützung funktioniert – und wo versagt der Staat? Eine Spurensuche zwischen Formularen, Fristen und fehlender Fürsorge.

Unsichtbar im System

Das deutsche Sozialhilfesystem basiert auf Strukturen – und auf Nachweisen. Ohne Meldeadresse kein Antrag, ohne Antrag keine Leistung. Die Vorstellung, dass jeder Mensch in Deutschland Anspruch auf Bürgergeld etc. habe, greift hier zu kurz. Wer keine Wohnung hat, verschwindet aus dem Raster der Verwaltung. Kein Name in einem Melderegister, kein Konto für Überweisungen, keine Telefonnummer für Rückfragen – das System erkennt ihn schlichtweg nicht. In einigen Städten, darunter Berlin, Köln oder München, existieren mittlerweile sogenannte Meldestellen für Wohnungslose, wo man eine Ersatzadresse einrichten kann. Die Stadtmission, Diakonien und soziale Träger übernehmen in solchen Fällen oft auch die Postverwaltung. Sie eröffnen einen kleinen Kanal zwischen Straße und Amt – aber es bleibt ein schmaler Grat. Wer nicht regelmäßig vorbeikommt, um Briefe abzuholen, verpasst Fristen. Wer nicht auf Anhieb versteht, was gefordert ist, gibt schnell auf. Es ist eine Teilnahme unter Vorbehalt.

Formularflut statt Fürsorge

Ein Blick auf die Realität der Sozialhilfeanträge offenbart ein System, das auf Ordnung, Nachvollziehbarkeit und Kontrolle ausgerichtet ist – nicht auf Flexibilität, Lebensrealität oder Empathie. Der Antrag auf Bürgergeld umfasst zahlreiche Dokumente: Identitätsnachweise, Kontoauszüge, Erklärungen zur Wohnsituation, Einkommensnachweise. Doch wie soll ein Mensch, der unter Brücken schläft, Kontoauszüge vorlegen? Wie ein Arbeitslosengeldantrag stellen, wenn man nicht einmal weiß, wo man morgen schläft? Hinzu kommt: Viele Behörden setzen inzwischen auf digitale Kommunikation. Was für manche ein praktischer Fortschritt ist, wirkt für andere wie eine verschlossene Tür. Wer kein Smartphone besitzt, kein Datenvolumen, kein Internetzugang in der Notunterkunft – bleibt ausgeschlossen. E-Government, so scheint es, ist für Menschen mit Papierproblemen gebaut – nicht für jene, die Papier nicht einmal mehr besitzen. Dass diese systemischen Hürden keine Einzelfälle sind, belegt auch eine repräsentative Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik aus dem Jahr 2022, die im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe erstellt wurde. Demnach gaben über 70 % der befragten Fachkräfte aus der Wohnungslosenhilfe an, dass bürokratische Anforderungen wie das Vorlegen von Dokumenten oder das Einhalten von Fristen die größte Hürde für wohnungslose Menschen beim Zugang zu Sozialleistungen darstellen. Besonders häufig genannt wurden Probleme bei der Beantragung von Bürgergeld, der medizinischen Versorgung und dem Zugang zu Wohnraum. Die Studie kommt zu dem ernüchternden Fazit: „Das bestehende Hilfesystem ist in weiten Teilen nicht auf die Lebenswirklichkeit wohnungsloser Menschen eingestellt.“ Diese Erkenntnis offenbart eine bittere Wahrheit: Nicht mangelnde Hilfsbereitschaft ist das Problem, sondern eine Struktur, die Betroffene immer wieder durch Raster fallen lässt, weil sie nicht in ein Formular passen.

Wenn das System versagt

In dieser Gemengelage aus Unsicherheit, Überforderung und institutioneller Kälte übernehmen Sozial- und Beratungsstellen oft die Rolle, die eigentlich dem Staat zukommen müsste: die des Lotsen. Hier arbeiten Menschen, die nicht auf Aktenzeichen schauen, sondern auf Gesichter. Die zuhören, erklären, begleiten. Ein Beispiel: Die Berliner Stadtmission bietet nicht nur Notunterkünfte, sondern auch Unterstützung beim Ausfüllen von Anträgen, beim Eröffnen eines Kontos oder dem Kontakt zu Behörden. Besonders wichtig ist dabei die Beratung von Menschen, die einen Anspruch auf Wohnung statt Obdachlosenunterkunft geltend machen wollen – also das Recht auf eine angemessene Wohnform, statt in einer Notunterkunft untergebracht zu werden. Die Sozialarbeiter dort berichten von dramatischen Fällen: Menschen, die monatelang ohne Krankenversicherung lebten, die trotz Anspruch auf Bürgergeld leer ausgingen, weil ein einziges Formular fehlte. Einmal pro Woche kommt auch Rechtsanwältin Miriam K. in die Einrichtung, um eine kostenlose Sozialberatung anzubieten. „Was viele vergessen: Selbst wer alles richtig macht, kann am System scheitern“, sagt sie. „Es gibt Fälle, in denen Leistungen bewusst verzögert werden. Oder Sachbearbeiter, die wohnungslose Menschen stigmatisieren. Unsere Arbeit besteht oft darin, überhaupt erst Gehör zu verschaffen.“

Typische Hürden für Obdachlose

Ein genauer Blick auf die strukturellen Probleme zeigt, wie vielschichtig und miteinander verflochten die Herausforderungen sind:
  • Fehlende Erreichbarkeit: Keine Postadresse = keine Kommunikation. Ohne festen Ort können Termine nicht wahrgenommen und Fristen nicht eingehalten werden.
  • Digitale Exklusion: E-Mail-Verkehr, digitale Terminvergabe, Online-Formulare – ohne Technik und Internetzugang sind viele Angebote nicht zugänglich.
  • Psychosoziale Belastung: Viele Obdachlose leiden an Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen – bürokratische Anforderungen werden zur Überforderung.
  • Stigmatisierung und Diskriminierung: Wer obdachlos ist, gilt oft als selbst schuld. Diese Haltung spiegelt sich nicht selten auch im Verhalten von Behörden wider. Die Stigmatisierung bei Sozialhilfeempfängern und Obdachlosen führt häufig dazu, dass Betroffene sozial ausgegrenzt werden.
  • Juristische Unwissenheit: Ohne rechtliche Unterstützung wissen viele nicht, dass sie Ansprüche haben – geschweige denn, wie sie diese durchsetzen können.

Politik und Gesellschaft

In Sonntagsreden wird oft betont, wie wichtig soziale Teilhabe sei. Wie sehr man gegen Armut vorgehen wolle. Doch der politische Alltag sieht anders aus: Vielerorts fehlt es an Wohnraum, an Personal in den Behörden, an klaren Zuständigkeiten. Zuständigkeiten werden hin- und hergeschoben wie heiße Kartoffeln. Zwischen Jobcenter, Sozialamt, Wohnungsamt, Bezirksverwaltung und Wohlfahrtsorganisationen verläuft ein kleinteiliges Netzwerk, das für viele Betroffene wie ein Labyrinth wirkt – ohne Plan, ohne Ariadnefaden. Auch zivilgesellschaftliches Engagement stößt an Grenzen. Ehrenamtliche brennen aus, Projekte kämpfen um Fördergelder, Hilfsangebote sind nicht flächendeckend verfügbar. Die Verknüpfung zwischen Sozialarbeit und politischer Verantwortung bleibt oft schwach. „Wir flicken Lücken, die gar nicht erst da sein dürften“, sagt eine Mitarbeiterin der Caritas, die anonym bleiben möchte. Dabei gäbe es Lösungen. Housing First etwa – ein Konzept, bei dem wohnungslose Menschen ohne Vorbedingungen ein festes Zuhause erhalten – funktioniert in Finnland bereits seit Jahren. Der Wohnraum wird dort nicht als Belohnung am Ende einer erfolgreichen „Resozialisierung“ vergeben, sondern als Grundlage für einen Neuanfang. Und der Erfolg gibt dem Modell recht: Die Zahl der Obdachlosen ist dort dramatisch gesunken. Warum also nicht auch hier?

Hoffnung zwischen Pflastersteinen

Thomas steht auf, zieht seine Mütze tiefer ins Gesicht. „Ich hab morgen einen Termin bei einer Beratungsstelle“, sagt er und lächelt zaghaft. „Mal sehen, ob diesmal was geht.“ Es klingt nicht wie Euphorie – eher wie ein vorsichtiger Schritt in eine Richtung, die er sich selbst fast nicht mehr zutraut. Aber es ist ein Anfang. Denn hinter jeder Akte steckt ein Leben. Hinter jeder Zahl ein Mensch. Und vielleicht beginnt soziale Gerechtigkeit genau dort: mit dem Willen, hinzuschauen, statt wegzusehen. Mit einem System, das Menschen nicht erst wertschätzt, wenn sie „funktionieren“, sondern weil sie da sind. Der Weg von der Straße ins System ist kein Spaziergang. Schulden, Ängste und bürokratische Hürden machen ihn steinig. Aber er ist möglich – wenn wir bereit sind, die Hindernisse nicht als gegeben hinzunehmen, sondern als Aufforderung, sie zu beseitigen.

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Was die Rente mit 63 nicht löst

Die „Rente mit 63“ wurde 2014 eingeführt und richtete sich an Menschen, die 45 Beitragsjahre in der gesetzlichen Rentenversicherung nachweisen können. Was auf den ersten Blick wie ein Akt der sozialen Gerechtigkeit erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Modell mit Schattenseiten. Während langjährig Beschäftigte in gut bezahlten Vollzeitjobs den frühen Ruhestand genießen können, bleibt diese Tür für viele verschlossen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen gearbeitet haben.

Ein Privileg für wenige

Gerade Frauen, die oft durch Kindererziehungszeiten und Teilzeitarbeit weniger Rentenpunkte gesammelt haben, schauen hier oft in die Röhre. Zwar werden Kindererziehungszeiten mittlerweile besser angerechnet, doch reichen diese meist nicht aus, um die 45 Jahre zu erreichen. Und wer aufgrund von Krankheit oder Arbeitslosigkeit Lücken in seiner Erwerbsbiografie hat, verpasst das Ziel oft knapp. Für diese Menschen bleibt der Gang in die Rente vor 67 mit hohen Abschlägen verbunden – oder der Gang zum Jobcenter, um Grundsicherung im Alter zu beantragen. Ein Beispiel aus dem Alltag: Während der Maschinenbaumeister nach 45 Jahren stolz in den Ruhestand geht, muss die alleinerziehende Verkäuferin, die mit Kindergeld und später Wohngeld über die Runden gekommen ist, bis 67 weiterarbeiten – oder sich mit einer kleinen Rente und ergänzender Grundsicherung abfinden. Hier zeigt sich, wie wichtig frühzeitige und gezielte Rentenplanung ist: Wer früh beginnt, sich mit seinen Ansprüchen auseinanderzusetzen und mögliche Lücken zu schließen, hat bessere Chancen, im Alter nicht in die Armutsfalle zu geraten. Doch gerade Menschen mit geringen Einkommen fehlt oft die Möglichkeit, privat vorzusorgen – und genau hier entsteht ein Teufelskreis, der soziale Ungleichheiten weiter verschärfen kann.

Wer profitiert – und wer bleibt zurück?

Die Gewinner der Rente mit 63 sind klar umrissen – und es lohnt sich, genauer hinzusehen:
  • Facharbeiter in stabilen Branchen: Menschen, die mit 16 oder 17 ins Berufsleben gestartet sind und bis zur Rente durchgearbeitet haben, meist in Industrie, Handwerk oder bei der Bahn, profitieren. Sie haben oft gut verdient und genügend Rentenpunkte gesammelt.
  • Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst: Dank sicherer Arbeitsplätze und stabiler Karrieren erreichen sie mühelos die 45 Jahre. Zudem profitieren sie häufig von einer zusätzlichen Altersversorgung.
  • Gutverdiener: Wer gut verdient hat, kann zusätzlich privat vorsorgen, zum Beispiel mit Betriebsrenten oder Riester-Renten. Früh in Rente zu gehen, bedeutet hier nicht zwangsläufig einen finanziellen Einschnitt.
Auf der anderen Seite steht eine Gruppe, die kaum Chancen hat:
  • Geringverdiener und Teilzeitkräfte: Besonders betroffen sind Frauen, die oft wegen Kindererziehung Teilzeit arbeiten mussten. Zwar wird die Erziehungszeit mittlerweile angerechnet, doch meist reichen diese Jahre nicht, um die 45 Jahre zu erfüllen.
  • Arbeitslose und gesundheitlich eingeschränkte Personen: Wer arbeitslos war oder wegen Krankheit früher aufgeben musste, verliert oft wertvolle Beitragsjahre und sieht sich einer drohenden Altersarmut
  • Selbstständige ohne Pflichtversicherung: Viele Selbstständige zahlen nicht in die gesetzliche Rentenkasse ein. Für sie bleibt die Rente mit 63 unerreichbar – oft bleibt nur die private Vorsorge oder im schlimmsten Fall die Grundsicherung im Alter.
Dieses Bild zeigt: Die Rente mit 63 ist kein Instrument der Umverteilung, sondern bevorzugt Menschen, die ohnehin stabile Erwerbsbiografien haben.

Frage der Finanzierbarkeit

Hier liegt der gesellschaftliche Knackpunkt. Die Rente mit 63 ist kein Gratisgeschenk, sondern muss aus dem umlagefinanzierten Rentensystem bezahlt werden – sprich: aus den Beiträgen der arbeitenden Generation. Doch die Demografie stellt die Solidargemeinschaft vor enorme Herausforderungen. Immer weniger junge Menschen müssen für immer mehr ältere aufkommen. Heute kommen etwa 100 Beitragszahler auf 50 Rentner. Im Jahr 2035 könnte sich dieses Verhältnis deutlich verschärfen. Stellen wir uns die Rentenkasse als riesiges Fass vor. Jahrzehntelang haben die Babyboomer-Generationen dieses Fass gefüllt. Nun zapfen sie es an – früher und länger als gedacht. Währenddessen rinnen von unten neue Lasten hinein: Kindergrundsicherung, steigende Pflegekosten, Wohngeld für Rentner mit kleinen Einkommen. Es wird immer schwerer, den Pegel stabil zu halten. Ökonomen schlagen deshalb Alarm. Ohne Reformen drohen steigende Rentenbeiträge oder sinkende Rentenniveaus. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der junge Familien bereits über hohe Kita-Kosten, steigende Mieten und den Wegfall des Baukindergeldes stöhnen. Vor allem die steigenden Mieten in Großstädten sind besorgniserregend. Schon jetzt sind viele auf Zuschüsse aufgrund hoher Mieten angewiesen.

Gesellschaftliche Folgen der Rente mit 63

Gesellschaftlich hat die Rente mit 63 eine ambivalente Wirkung. Einerseits ist es ein starkes Zeichen: Wer sein Leben lang gearbeitet hat, darf sich auf einen würdevollen Ruhestand freuen. Die Anerkennung von Lebensleistung stärkt das Vertrauen in den Sozialstaat und vermittelt das Gefühl, dass Leistung zählt. Andererseits erzeugt die Rente mit 63 aber auch sozialen Sprengstoff. Warum darf der Metallfacharbeiter mit 63 in Rente, während die Krankenschwester mit gebrochenem Rücken bis 67 durchhalten muss? Warum darf der Familienvater aus der Autoindustrie schon früher den Grill anschmeißen, während die alleinerziehende Mutter weiterhin jede Woche das Wohngeld neu beantragen muss, um ihre Miete zu bezahlen? Hinzu kommt: 63-Jährige sind heute oft fitter und engagierter als je zuvor. Viele wollen sich weiter einbringen – sei es im Ehrenamt, in Vereinen oder sogar mit einem Minijob, um die Rente aufzubessern. Hier könnten flexible Modelle helfen, einen sanften Übergang in den Ruhestand zu schaffen, statt Menschen abrupt aus dem Berufsleben zu reißen.

Reformideen der Rente und Perspektiven

Die Diskussion über die Zukunft der Rente mit 63 ist in vollem Gange – und es gibt eine Reihe von Ansätzen, die helfen könnten, das System gerechter und nachhaltiger zu machen:
  • Flexibles Renteneintrittsalter: Je nach Belastung des Berufs (z. B. körperlich harte Arbeit vs. Bürotätigkeit) könnte das Eintrittsalter variieren.
  • Bessere Anerkennung von Erziehungs- und Pflegezeiten: Wer Angehörige gepflegt oder Kinder großgezogen hat, sollte stärker angerechnet bekommen – ein wichtiger Schritt gerade für Frauen.
  • Förderung freiwilliger Weiterarbeit: Wer über das reguläre Rentenalter hinaus arbeitet, könnte steuerlich und mit zusätzlichen Rentenpunkten belohnt werden.
  • Stärkere Kombination mit Sozialleistungen: Ein Zusammenspiel von Grundrente, Wohngeld, Kindergeld und Rentenleistungen könnte helfen, Altersarmut zu vermeiden und individuelle Lebenslagen besser zu berücksichtigen.
Letztlich müssen wir weg vom starren „One-size-fits-all“-Denken. Menschen sind keine Zahlen in einer Statistik – ihre Lebensläufe sind so bunt und unterschiedlich wie die Gesellschaft selbst.

Eine Frage, die ans Herz geht

Die Rente mit 63 ist mehr als nur eine Sozialleistung – sie berührt grundlegende Fragen von Gerechtigkeit, Anerkennung und sozialem Zusammenhalt. Sie wirft Licht auf die Unterschiede in unserer Gesellschaft und zwingt uns, über den Wert von Arbeit, Lebensleistung und Solidarität nachzudenken. Bleibt am Ende nicht die Frage: Was ist uns eine Gesellschaft wert, die nicht nur auf Rentenformeln und Beitragsjahre schaut, sondern auch auf die Geschichten dahinter? Vielleicht sollten wir nicht nur darüber sprechen, wer mit 63 in Rente darf, sondern wie wir allen Menschen einen würdevollen Ruhestand ermöglichen – unabhängig von Einkommen, Geschlecht oder Lebensweg. Denn am Ende zählt nicht nur die Zahl auf dem Rentenbescheid – sondern das Leben, das dahintersteht.

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